Lübecker Totentanz

Bedenke, dass du sterben wirst

Mitten im Leben -
sind wir vom Tod umgeben

Von Hildegard Vogeler und Hartmut Freytag

Zum Tanze

 

 

Den berühmten Lübecker Totentanz schuf der junge Bernt Notke 1463 nach dem Vorbild der Danse Macabre in Paris aus dem Jahr 1424/25 für die Beichtkapelle im Norden der Marienkirche. Diese lichtabgewandte Seite legt den Gedanken an den Tod nahe und erinnert den Menschen daran, durch Reue, Beichte und Buße sein Leben entsprechend der christlichen Lehre zu ordnen. Damals erwartete man die sich von Süden ausbreitende Pest, die Lübeck tatsächlich zu Ostern 1464 erreichen sollte.

 

Der Totentanz war nicht auf Holztafeln, sondern auf eine 26m lange und fast 2m hohe Wandbespannung aus Leinen gemalt, die sich oberhalb des Beichtgestühls entlang den Wänden der Kapelle als fortlaufende Bildsequenz erstreckte. Der Fries zeigte, angeführt von einem Flöte spielenden und einem Sarg tragenden Tod 24 nahezu lebensgroße Paare. Sie bestanden jeweils aus einer Todesfigur und einem (noch) Lebenden, angefangen mit dem Papst und dem Kaiser, über den Bürgermeister und Kaufmann bis hin zum Bauern und dem Wiegenkind. Der Reigen umfasste Vertreter aller Stände und schloss einzelne weibliche Figuren und verschiedene Altersstufen mit ein. In den Tanz des Todes fügten sich die Lebenden nur starr und widerstrebend ein, dagegen sprangen die Totengerippe wild und ausgelassen. Am Ende aber mähte ein Sense schwingender Tod alles Leben nieder.


Dass sich der makabre Reigen unmittelbar vor der heimischen Landschaft mit der repräsentativen Stadtkulisse Lübecks in ihrer Mitte abspielt, unterscheidet den Lübecker Totentanz von allen anderen überlieferten Totentänzen. So können sich Betrachter:innen mit den Figuren im Reigen identifizieren und erkennen, dass einem hier und jetzt ein Spiegel vor Augen gehalten wird, in dem man sich selbst im Tanz mit dem Tod erblickt. Damit erweist sich angesichts des Todes die Vergänglichkeit von Macht, Reichtum und Schönheit dieser Welt.


Ähnlich kunstvoll verknüpft wie die farbenprächtige Bilderfolge auf dem Gemälde, entfaltete sich unterhalb der Figuren der niederdeutsche Text mit dem Dialog zwischen den Todesfiguren und den Lebenden. Der Totentanz gemahnte hier den einzelnen, sein Leben einerseits auf das Jenseits und die Erlösung auszurichten und sich andererseits für seine persönliche Aufgabe innerhalb der sozialen Gemeinschaft im Diesseits einzusetzen.

 

Der Totentanz von St. Marien hat in der Nikolaikirche in Tallinn (Estland) mit dem Revaler Totentanz ein "Schwesterstück". Diesen fertigte Bernt Notke um 1500 nach dem Vorbild seines Lübecker Totentanz-Frieses an. Dieses ebenfalls auf Leinwand gemalte Fragment bildet mit 13 Figuren den Anfang eines ursprünglich vollständigen Totentanzes. Die Dynamik der Figuren und die Leuchtkraft seiner Farben lassen noch heute erahnen, wie ausdrucksstark auch das alte Gemälde in Lübeck gewesen sein muss.

 

Die empfindliche Wandbespannung des Lübecker Frieses wurde im Laufe der Jahre häufig repariert und war 1701 schließlich so verschlissen, dass man das gesamte Gemälde durch eine Kopie des Kirchenmalers Anton Wortmann ersetzen ließ. Zugleich schuf der verdiente Stadtpoet Nathanael Schlott eine zeitgemäß stilisierte Neudichtung, die wie beim alten Totentanz an die gleiche Stelle unterhalb der Figuren trat. Die neuen Verse vermittelten ein gewandeltes Todesverständnis; denn die barocke Sehnsucht nach dem Tod verdrängte die Lebensfreude und die Angst vor dem Tod und dem Jüngsten Gericht, wie sie vielen Figuren des spätmittelalterlichen Werks eigen war.

 

Der Totentanz von St. Marien wirkt seit seinem Entstehen bis in unsere jüngste Gegenwart weiter. Hiervon zeugen traditionelle und neue Formen des Kunsttypus, zumal wenn Kriege, Seuchen und andere Katastrophen ein Gefühl von Angst und Ohnmacht angesichts übermächtiger Gewalten hervorrufen. Gerade zu solchen Zeiten suchen und finden Menschen im Totentanz einen Ausdruck für ihre existenzielle Grundstimmung.

 

Im Zweiten Weltkrieg wurde der Lübecker Totentanz vollständig zerstört. Heute halten in der Totentanzkapelle zwei jüngere künstlerische Umsetzungen das Thema Tod und Totentanz wach. Zum einen sind es die zwei hoch aufragenden Totentanzfenster von Alfred Mahlau auf der Nordwand und zum andern ist es das halbrunde Fenster von Markus Lüpertz über dem Nordportal der Kapelle.   


Mahlau entwarf sein Werk in den Jahren 1956/57 in Erinnerung an den vernichteten Fries. Dabei ließ er sich von den alten Figuren anregen. Als Mahnmal des Zweiten Weltkriegs platzierte er den Todesreigen über den brennenden Häusern und Türmen der Stadt Lübeck. Dieses katastrophale Szenario deutet der Maler jedoch, Trost spendend, in eine Vision des Friedens um; denn er interpretiert das Wiegenkind am Ende des Totenreigens als das Christuskind in der Krippe, das den Tod überwindet und die rechte Hand zum Segensgestus erhebt. Die Aussage gipfelt in den Worten „GLORIA IN EXCELSIS DEO. AMEN“ (Ehre sei Gott in der Höhe. Amen).


Das 2002 von Lüpertz gestaltete Fenster kombiniert vertraute christliche Zeichen von Tod und Auferstehung: den Fisch als Symbol für Christus, den Totenschädel im Gespräch mit der Friedenstaube, die in den Krallen eine aufblühende rote Rose als Symbol der Liebe und des Lebens hält, den blauen Krug mit dem Wasser des Lebens, die Schnecke als Symbol für Tod und Wiedergeburt und die sieben Fackeln der Apokalypse, die das Jüngste Gericht ankündigen. So gesehen, versteht sich das Bildfenster nicht als Vision des Schreckens, sondern als Hoffnung und Trost spendende Deutung des Todes.


Literatur:
Der Totentanz der Marienkirche in Lübeck und der Nikolaikirche in Reval (Tallinn). Edition, Kommentar, Interpretation, Rezeption. Hrsg. von Hartmut Freytag (Niederdeutsche Studien 39), Köln - Weimar - Wien 1993.
Zens, Der neue Lübecker Totentanz, Hrsg. Galerie Peithner-Lichtenfels, Wien [2003].

Der Tod

Für viele Erwachsene ist die Auseinandersetzung mit Tod und Sterben eines der wenigen verbliebenen gesellschaftlichen Tabus. Wir reden sehr ungern darüber. In vielen Fällen wissen nicht einmal unsere engsten Angehörigen, was wir uns für unser Ende wünschen. Das Ziel ist möglichst ein Leben lang jung, dynamisch und aktiv zu sein. Jugendwahn wird das manchmal genannt. Und die Forschung der Gegenwart legt uns nahe, dass das immer erreichbarer wird. „Homo Deus“ - es wird vorstellbar, dass der menschliche Verfall und Krankheiten in wenigen Jahrzehnten medizinisch überwindbar sein werden. Gleichzeitig haben die Hospizbewegung und die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Themen wie der Patientenverfügung eine entgegengesetzte Bewegung in Gang gesetzt. Eine Bewegung, die sehr wichtig ist:

 

Wenn unsere Liebsten unsere Wünsche in Bezug auf das Ende kennen, dann ermöglichen wir ihnen, beim Abschied das beruhigende Gefühl alles in unserem Sinne regeln zu können.

 

Und dennoch bleibt etwas zu tun. Wie wäre es, wenn der Tod und das Sterben selbst einen Teil ihres Schreckens verlören? Weil wir Bilder von Ihnen haben, die uns keine Angst machen. Weil wir über das Leiden hinausschauen auf das, von dem wir glauben, dass es uns nach der Schwelle des Todes erwartet. Ganz so wie J.K. Rowling Albus Dumbledore sagen lässt: „Schließlich ist der Tod für den gut vorbereiteten Geist nur das nächste große Abenteuer.“ Hier können wir von den Kindern lernen. Und das finde ich sehr biblisch: Wir sollen das Himmelreich empfangen wie Kinder. Kinder wissen noch nicht, dass Themen rund um Sterben und Tod gesellschaftliche Tabuthemen sind. Sie äußern das, was ihnen dazu durch den Kopf geht ohne Filter und Selbstzensur. Sie unterteilen ihre Trauer in Portionen, die sie verkraften können. Und so kann es passieren, dass sie noch in diesem Moment untröstlich über einen Verlust weinen und schon im nächsten Moment wieder fröhlich spielen. Dazu möchte ich ermutigen: Dass wir uns trauen, uns etwas bei den Kindern abzuschauen. Dass wir uns zugestehen, Angst zu haben. Dass wir uns zugestehen Bilder zu entwickeln für das, was nach dem Tod kommt. Und dass wir uns trauen, uns darüber auszutauschen mit unseren eigenen Vorstellungen und mit den Gedanken die Menschen aus Kunst und Geschichte über Jahrhunderte dazu gedacht haben.

 

(Von Marienpastorin Inga Meißner)

Das Leben

Wo komme ich her? Wo werde ich hingehen? Wie kann ich leben? Die gotische Basilika St. Marien reflektiert seit dem 13. Jahrhundert in unübertroffener Weise Grundfragen des Menschseins. Fragen, die die Menschen jeder Generation umtreiben. Die mittelalterlichen, erhabenen Prozessionen in den liturgischen Feiern der Kathedrale, die Einzüge in weißen Gewändern mit kostbarem Schmuck, die stilisierten Rituale mit ihrem distanzierenden Habitus erhielten als künstlerische Beigabe die Demokratisierung des Lebensziels:

 

Der Totentanz bildet zugleich die Furcht vor dem Ende als auch die Perspektive der Gleichheit allen Ausgangs ab.

 

Mit dem Totentanz entfaltet die Kathedrale damit die satirische Vision eines tiefen Trostes, der in jedem Leben zur Gestaltwerdung drängt. Welch ein Entwurf! Man mag sich vorstellen, wie der zitternde Gläubige in die Beichtkapelle eintrat, den monumentalen Wandfries und damit den tiefen Ernst der Situation vor Augen – um sich dann der Vergebung der Sünden zu versichern. Das bedeutete nichts weniger denn den Fortgang des Lebens. Das fascinosum et tremendum, wie Rudolf Otto im vielleicht bedeutendsten religionswissenschaftlichen Entwurf des letzten Jahrhunderts „Das Heilige“ beschrieben hat, wird hier augenfällig.

 

Der Glaube antwortet auf die letzten Fragen des Lebens zuerst mit respektvoller Wahrnehmung und Deutung von Lebenswirklichkeit - um einzugestehen, als Mensch immer nur erschauern und sich trösten lassen zu können. So wie es in St. Marien der Antwerpener Altar mit der Darstellung des Marientodes vor Augen führt: Ein getröstetes Sterben. Der Tod als Übergang in das andere Leben, von dem wir nichts wissen und hoffen außer Frieden.

 

(Von Marienpastor Robert Pfeifer)

Multimedia

Mitten im Leben sind wir vom Tod umringt

Auf den ersten Blick wirkt der Totentanz gruselig oder gar verstörend. Doch bei längerem Betrachten und Lesen der Texte wird man nachdenklicher. Und dann ganz plötzlich: So unglaublich dankbar für diese Atemzüge, die sich Leben nennen.

Samuel Stahn
Ehrenamtlicher Mitarbeiter